Warum 76% der jungen Deutschen lieber schreiben als telefonieren – der Grund ist nicht, was du denkst

Warum viele junge Deutsche das Telefonieren meiden – die Psychologie der Telefonangst

Ein klingelndes Handy kann für viele junge Deutsche ein beklemmendes Gefühl hervorrufen. Kein Ping von WhatsApp, keine Benachrichtigung von Instagram – ein echter, altmodischer Anruf. Und plötzlich merkt man, wie die Nervosität einsetzt. Besonders in der Generation Z und unter Millennials löst das Telefonieren oft Stress und Unbehagen aus.

Eine Umfrage von YouGov aus dem Jahr 2022 zeigt, dass 76 Prozent der 18- bis 34-Jährigen in Deutschland Messaging-Dienste dem klassischen Telefonat vorziehen. Doch was steckt hinter dieser Präferenz? Die Ursachen sind nicht nur persönliche Vorlieben, sondern folgen oft psychologischen Mustern.

Telefonate als Quelle sozialer Unsicherheiten

Telefonate können soziale Ängste verstärken, denn sie erfordern spontane Reaktionen ohne visuelle Hinweise. Solche Situationen gelten als herausfordernd und werden häufig mit sozialer Angst in Verbindung gebracht. Der Fachbegriff hierfür ist Telephonophobie. Laut psychologischen Studien, wie etwa einer Veröffentlichung in Psychology Research and Behavior Management (2021), sind vor allem digital geprägte junge Menschen betroffen.

Der Wunsch nach Kontrolle und die Aufregung, die das Telefonieren mit sich bringt

Ein wichtiger Grund für die Vermeidung von Anrufen ist das Bedürfnis nach Kontrolle. In der schriftlichen Kommunikation, ob per Nachricht oder E-Mail, hat man die Möglichkeit, seine Worte sorgfältig zu wählen und zu überdenken. Diese asynchrone Kommunikation bietet Sicherheit und lässt Raum zum Nachdenken.

Telefonate hingegen fordern unmittelbare Antworten. Die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren, existiert kaum. Gerade jüngere Menschen fühlen sich schnell überfordert, besonders wenn ein hoher Perfektionsanspruch an sie gestellt wird. Diese Performance-Angst – die Sorge, den Erwartungen nicht gerecht zu werden oder peinlich aufzufallen – ist insbesondere bei Jüngeren ausgeprägt. Eine Allensbach-Umfrage von 2023 zeigt, dass 68 Prozent der 16- bis 29-Jährigen bei Anrufen den Druck spüren, sofort und richtig reagieren zu müssen.

Körpersprache fehlt – und damit ein wichtiges Kommunikationsmittel

Worte sind nicht alles in der Kommunikation. Mimik, Gestik und Tonfall sind entscheidend, um Emotionen und feine Nuancen zu transportieren. Diese fehlen beim Telefonieren völlig.

Laut der bekannten 55-38-7-Regel des Psychologen Albert Mehrabian machen Körpersprache 55 Prozent, der Tonfall 38 Prozent und der Inhalt nur 7 Prozent des Gesamtverständnisses aus. Auch wenn diese Regel nicht absolut ist, zeigt die Kommunikationspsychologie, dass ohne visuelle Hinweise viele Botschaften falsch interpretiert werden können. Ohne Emojis oder visuelle Unterstützung am Telefon steigt die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse.

Ständige Erreichbarkeit, aber selektive Ansprechbarkeit

Junge Menschen sind heute zwar digital dauerhaft erreichbar, doch paradox steigert dies nicht die Kommunikationsfreude. Ein unerwarteter Anruf kann den Tagesablauf stören. Psychologin Sherry Turkle beschreibt dieses Phänomen treffend: „connected, but alone“. Rennommierte Jugendstudien, darunter die JIM-Studie 2023, bestätigen den Wunsch nach mehr Selbstbestimmung in der Kommunikation.

Stille am Telefon – für viele eine Belastungsprobe

Im Messaging ist es normal, auf Antworten zu warten. Am Telefon wird jede Pause schnell als unangenehm empfunden. Eine Studie der Universität Köln von 2023 ergab, dass 71 Prozent der 18- bis 30-Jährigen Gesprächspausen am Telefon als belastend empfinden.

Der Drang zur Perfektion und der Zwang zur Selbstdarstellung

Social Media beeinflusst unser Kommunikationsverhalten enorm. Beiträge werden optimiert, Bilder bearbeitet, Texte bewusst gestaltet. Diese kuratierte Selbstpräsentation wirkt sich auch auf andere Kommunikationsformen aus. Am Telefon entfällt diese Kontrolle. Studien belegen, dass der Perfektionsdruck während Telefonaten zu gestörter Kommunikationsfähigkeit führt.

Corona und der digitale Wandel in der Kommunikation

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung digitaler Kommunikation entscheidend verstärkt. Während Videokonferenzen an Popularität gewannen, sank die Zahl privater Telefonate stark. Viele Menschen ziehen in ihrer Freizeit entspannte Kommunikationsformen vor, was die Abneigung gegen Telefongespräche weiter verstärkt hat.

Deutsche Kommunikationskultur – Telefonieren im Vergleich

Kulturelle Unterschiede prägen das Telefonverhalten. Deutsche sind in ihrer Kommunikation meist formell und strukturiert. Im Vergleich zu südeuropäischen Ländern wie Italien oder Spanien telefoniert die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen hier deutlich weniger. Laut einer Pew Research Center Studie liegen Deutsche im Telefonverhalten ein Drittel unter dem südeuropäischen Durchschnitt.

Telefonieren im Berufsalltag – ein Stressfaktor?

In vielen Berufen dominiert mittlerweile die schriftliche Kommunikation. Telefongespräche werden oft als Transportmittel unangenehmer Inhalte wahrgenommen. Studien legen nahe, dass vor allem in Unternehmen, die auf schriftliche Kommunikation setzen, die mündliche Gesprächskompetenz sinkt.

Generationen im Kommunikationskonflikt

Ein scheinbar banales Szenario mit symbolischem Charakter: Oma ruft an, die Enkelin schreibt lieber zurück. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung 2023 zeigt, dass 58 Prozent der über 60-Jährigen sich von jüngeren Generationen durch fehlende Anrufe vernachlässigt fühlen.

Jüngere Menschen hingegen empfinden spontane Anrufe oft als überfordernd. Ein Mittelweg im Dialog zwischen den Generationen muss gefunden werden.

Strategien gegen die Telefonangst: Tipps und Tricks

Telefonangst ist überwindbar. Moderne Psychotherapien empfehlen folgende Schritte, um das Unbehagen zu lindern:

  • Klein anfangen: Führe kurze, geplante Gespräche mit vertrauten Menschen.
  • Vorbereitung: Notizen können als mentaler Leitfaden dienen.
  • Regelmäßiges Üben: Je häufiger du telefonierst, desto weniger ängstlich wirst du.
  • Realistische Erwartungen: Perfekte Kommunikation ist ein Mythos.
  • Selbstfreundlichkeit: Jeder verhaspelt sich mal – das ist normal.

Kommunikation im Wandel – ein Ausblick

Das klassische Telefonat wird durch Sprachnachrichten, Videokonferenzen und hybride Kommunikationsformen immer mehr ergänzt. Dabei gibt es kein „richtig“ oder „falsch“, sondern eine Auswahl passender Kanäle für unterschiedliche Bedürfnisse. Respekt vor den Kommunikationsvorlieben anderer kann wahre Nähe schaffen – ob per Text, Ton oder Emoji.

Wie fühlt sich für dich ein unerwarteter Anruf an?
Stresslevel sofort bei 100
Überraschend aber okay
Unhöflich und übergriffig
Nervös aber schaffbar
Mag ich sogar

Schreibe einen Kommentar